Der Nürtinger Ortsverein der SPD zeichnet sich schon seit vielen Jahren durch seine lebhafte Diskussionskultur aus. Vorstandssitzungen und Mitglieder-versammlungen bieten Gelegenheiten, politische Fragen eingehend und sachlich zu erörtern. Am vergangenen Montag ging es um die Bewertung des Koalitionsvertrags.
Bis Anfang März sind alle SPD-Mitglieder aufgefordert über eine Regierungsbeteiligung mit der Union zu entscheiden. Viele Bürger sehen darin auch eine Entscheidung über die mittelfristige Zukunft Deutschlands. Für etwa die Hälfte der SPDler ist es allerdings auch eine Entscheidung über die Zukunft ihrer Partei. Wie auch immer: Abgesehen vom Brexit bewegte keine Entscheidung in Europa innerhalb der letzten Jahre die Gemüter in einem vergleichbaren Ausmaß.
Entsprechend groß war auch das Interesse der Nürtinger SPD-Mitglieder; um ihre eigene Haltung zu überprüfen und eventuell zu überdenken. Zwei Stunden lang wurden Argumente Pro und Contra ausgetauscht, Überlegungen angestellt, über mögliche Konsequenzen diskutiert. Man ließ ausreden, ging aufeinander ein. Die alte SPD-Führung habe Glaubwürdigkeit eingebüßt. Warum also sollte man ihr zustimmen? Viele Absichts-erklärungen („Wir wollen…“) ließen nur wenig Hoffnung auf handfeste Veränderungen. Man „fahre nur auf Sicht“. Für die Gestaltung unserer Zukunft wichtige Fragen würden im Koalitionsvertrag nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt: Mobilität der Zukunft, Digitalisierung und ihre Folgen, das Klima und überhaupt die Umweltfragen würden nur vage angesprochen. Keine Visionen, nur ein „Weiter so“: das entspreche der CDU-Logik.
Argumente wie diese konnten die Befürworter einer Groko nur bedingt entkräften. Aber sie hielten dagegen: die „sozialpolitische Handschrift der SPD“ sei unverkennbar. Man müsse als Partei doch den Wunsch haben, mitzugestalten. Das gehe nur, wenn man an der Regierung sei. Sogar eine weitere Annäherung an die Gewerkschaften sei mit dem Ausgehandelten erreichbar. Mehr Kinderbetreuung, weniger befristete Arbeitsverträge, wieder der gleiche Beitragssatz bei der Krankenkasse für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, teilweiser Wegfall des Soli; das seien doch mehr als nur akzeptable Errungenschaften! Und in Europa ginge es auch wieder voran. Und schließlich der Trumpf: Was würde bei einer Ablehnung passieren? Eine brüchige Minderheitsregierung von CDU/CSU/FDP? Oder gar Neuwahlen mit nicht kalkulierbaren Ergebnissen für die SPD? Könne man das wirklich wollen? Und wie steht es mit der „Erneuerung“ der Partei? Müsse man dazu zwangsläufig in die Opposition oder schaffe man das nicht auch als Regierungspartei?
SPD-Chefin Bärbel Kehl-Maurer freute sich über die gute, ausführliche und faire Diskussion. Zum Schluss gab es kein eindeutiges Stimmungsbild. Allerdings schienen die Groko-Befürworter in der Mehrheit zu sein. Wie auch immer die Abstimmung ausgehe, einig war man sich darüber, dass die Parteiführung GroKo-Befürworter und – Gegner wieder zusammenbringen müsse. Das sei keine leichte, aber eine notwendige Aufgabe.
Aber nur dann habe man wieder eine politische Chance. Auch müsse dazu die Parteibasis in Bewegung gesetzt werden: Erneuerung von unten nach oben, Graswurzelbewegung, weg von „Basta-Entscheidungen“. Mut zeigen, endlich die richtigen, also neuen Fragen stellen: „In was für einer Gesellschaft wollen wir in zehn Jahren leben? Was brauchen wir dafür? Welche Weichen müssen dazu schon heute gestellt werden? Auch auf den mittleren und unteren Ebenen gebe es genügend Potentiale, die genutzt werden könnten, um solche Fragen zu diskutieren. Und dann könnten eben auch die richtigen Antworten gefunden werden. Und wieder ein klares und eindeutiges Profil für die SPD.