Ortsvereinsvorsitzende Bärbel Kehl-Maurer begrüßte die zahlreich erschienen Gäste in der Kreuzkirche zur traditionellen Aschermittwochsveranstaltung der Nürtinger SPD. Zum 35. Male wurde das „Ei der Heckschnärre“ verliehen, eine Art Orden, die Männer und Frauen erhalten, die „aufrecht schnärrend“ ihr Revier verteidigen. Prof. Andreas Mayer-Brennenstuhl hieß der diesjährige Preisträger, und entsprechend kamen viele Besucher aus der in Nürtingen und Umgebung beheimateten Künstlerwelt.
Kehl-Maurer hatte nicht zu viel versprochen: Es wurde ein Abend auf hohem intellektuellen Niveau, ging es doch darum, welchen Stellenwert Kunst und Künstler in der heutigen Gesellschaft einnehmen. Diesem Niveau passte sich auch die Musik an: Bamba Amsberg präsentierte zwischen den einzelnen Programmpunkten eigene Lieder, die er zum ersten Mal öffentlich vortrug. Da ging es um unseren Planeten, der sich über die Behandlung seitens der Menschen beschwert oder um Kinder, die vor dem Smartphone vereinsamen und darüber das Leben verpassen. Aber nicht nur Kritik trug Amsberg vor, sondern machte Hoffnung, dass sich vieles noch zum Besseren wenden könnte.
Michael Gompf hielt die Laudatio, in der er die Bedeutung und Leistungen des Preisträgers hervorhob. Insbesondere habe Mayer-Brennenstuhl durch seine „Pionierprojekte im öffentlichen Raum“ die Gesellschaft aufrütteln wollen, die es ihm aber nicht immer gedankt habe. Sein Ziel sei es immer gewesen, durch künstlerische Prozesse auf gesellschaftliche Entwicklungen einzuwirken. Dabei galt es Möglichkeiten auszuloten, andere Perspektiven einzunehmen und ein Bewusstsein für Selbstverantwortung zu schaffen. Gompf beschrieb seine Aktionen als „politisch motivierte Raumbesetzungen“, die zu Umdeutungen bestehender Ordnungen anregen sollten.
Mit Seiner „Beharrlichkeit, die oft schwer zu ertragen“ gewesen sei, sei Mayer-Brennstuhl auch bei Mitstreitern öfters angeeckt. Sein Epizentrum habe er in Nürtingen gehabt, aber viele Wellen seien von dort nach außen, auch über die europäischen Grenzen hinaus gegangen.
Andreas Mayer-Brennenstuhl sieht sich der Heckschnärre verwandt, eine vom Aussterben bedrohte Art: Vielleicht werde es auch bald keine Preisträger mehr geben, dann nämlich, wenn die „schleichende Zerstörung der demokratischen Gesellschaft“ weitergehe. Sein Milieu ist die Generation der 70er-Jahre, das mit den Stichworten „mehr Demokratie wagen“, ein Gefühl von Freiheit und Gerechtigkeit; sie seien eben „Kinder Willy Brandts“ gewesen. Hier sieht er auch seine Kunst verortet, indem Kunst „Vorhut und Vordenker einer besseren Welt“ sei. Er wolle den „Mehrwert der Kultur erlebbar machen“, „Kulturelle Teilhabe“ erreichen, eine Kultur für alle. Diesen Anspruch sieht Mayer-Brennenstuhl seit der Ära Kohl in Gefahr; die von dem damaligen Bundeskanzler geforderte „moralische Wende“ trage allmählich Früchte.
Während Mayer-Brennenstuhl früher eher neue Reviere für seine Kunst entdeckte und eroberte, habe er heute tatsächlich das Gefühl, diese Reviere verteidigen zu müssen, wie einst die Heckschnärre. Seine Aktionen erlebe er mehr und mehr als Rückzugsgefechte, so zum Beispiel bei seiner Aktionen gegen „Stuttgart 21“ oder bei seinem neuen „Neuropa“-Projekt: ein ständiger Kampf gegen die Aushöhlung der Demokratie und des Gedankens an ein gemeinsames Europa im Gegensatz zum Denken in nationalen Schubladen. Gegen die „Aufkündigung der Solidarität durch die Eliten“ – ein Grundübel der heutigen Zeit. Aber einschüchtern lässt er sich dennoch nicht: „Ich gehe meinen Weg weiter.“
Es geht ihm stets darum, das Mögliche zu denken, die Utopie zu erkunden und sich ihr, zurückgehend auf Ernst Bloch, anzunähern. Das Noch-Nicht zu erkunden und das objektiv Mögliche zu erkennen und umzusetzen.
Kleine Auswahl an Aktionen, die Mayer-Brennenstuhl initiierte oder an denen er entscheidend mitwirkte:
Kulturcafé Provisorium (Provi)
Lichtinstallation auf dem alten E-Werk
Hölderlin auf dem Floß im Neckar
Nürtingen ist bunt
Mobile Akademie AKAS („Alles könnte anders sein)
NN – das Noch-Nicht-Institut
Neuropa ( Europa neu denken)