(we) Zum 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung besuchte eine Delegation der Nürtinger SPD vom 2. bis 4. Oktober die Parteifreunde in der Partnerstadt Zerbst. Neben dem Besuch des Bauhauses im benachbarten Dessau stand ein intensiver Gedankenaustausch auf dem Programm.

Zerbsts Bürgermeister Andreas Dittmann (SPD) hatte am Freitagabend die Nürtingerinnen und Nürtinger im Gildehaus begrüßt. Schnell kam man auf das Thema „Flüchtli8ne“ zu sprechen. Siebzig Flüchtlinge leben zur Zeit in Zerbst, mit siebzig weiteren wird demnächst gerechnet. Standen auch seit der Wende viele Wohnungen leer, weil die Bevölkerung deutlich schrumpfte, so stellt sich heute dieses Problem anders dar. In Zerbst leben zur Zeit 700 Polen, meist jüngere Leute, die insbesondere in der Lebensmittelindustrie Arbeit gefunden haben. Die holen teilweise auch ihre Familien nach und brauchen deshalb Wohnraum..

Doch ärgert sich der Bürgermeister über private Wohnbaugenossenschaften, die über viele leerstehende Wohnungen verfügen, die aber nicht für die Flüchtlinge bereitstellen wollen. An diese Wohnungen kommt die Stadt nicht heran. Dittmann will keine Sporthallen belegen, denn das führe schnell zu Protesten der Eltern, die auf den Sportunterricht ihrer Kinder Wert legen. Aber Dittmann ist zuversichtlich: „Das schaffen wir, auch weil es viele ehrenamtliche Helfer gibt, die sich um die Flüchtlinge kümmern.“ Fremdenfeindliche Äußerungen oder Aktionen seien selten.

Mehrfach gab es auch Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem in Nürtingen bestens bekannten früheren Innenminister und jetzigen Landtagsabgeordneten in Sachsen-Anhalt, Holger Hövelmann. Er wird bei der Landtagswahl im nächsten Jahr, übrigens am gleichen Tag wie in Baden-Württemberg – am 13. März – , wieder in seinem Wahlkreis Dessau kandidieren. Dabei war auch der Zerbster SPD-Kandidat Oliver Lindner, ein sympathischer jüngerer Mann, der sich zum ersten Mal für den Landtag aufstellen ließ.

Holger Hövelmann schätzt an der Deutschen Einheit, dass sich alle einbringen können, dass alle ihre Chancen nützen, dass die Kinder ihr Studium frei wählen können. Allerdings bezeichnet er es als „unanständig“, dass Renten und Gehälter noch lange unter dem westlichen Niveau liegen werden: „Man fühlt sich einfach weniger wert.“ Seine Frau Silke, Stadträtin in Zerbst, fühlt sich seit der Wende freier und „sicherer“, die militärische Präsenz durch die Nationale Volksarmee (NVA) habe enorm einschüchternd gewirkt. Sie bemängelt, dass Westdeutschland der DDR „alles übergestülpt“ habe, ohne zu fragen, was denn in der DDR gut gewesen sei, z.B. das Bildungswesen oder die medizinische Versorgung.

So sieht es auch Carola Bergt, die im Zerbster SPD-Ortsverein und im Stadtseniorenbeirat aktiv ist. Positiv sieht sie die „vielen neuen Wege, die einem als Rentner offenstehen“ und überhaupt die „Vielfalt“, die es in allen Bereichen zu gestalten und zu erkennen gibt. Andreas Dittmann sagt zuerst, er wäre unter dem DDR-Regime sicher nicht Bürgermeister geworden. Und in seiner Stadt Zerbst wäre der Substanzverfall weitergegangen, während man jetzt nach 25 Jahren vieles gerettet oder neu aufgebaut habe. Sorge bereitet ihm allerdings die soziale Schere, die weiter auseinandergehe: der Mindestlohn an sich sei zwar richtig, aber 8,50 Euro seien zu wenig. Auch sei dadurch der Abstand zu Hartz-IV-Beziehern zu gering und halte manche davon ab, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen.

Für den Samstag hatte Dittmann für die Gäste aus Nürtingen eine spezielle Führung durch den Bauhaus-Komplex in Dessau und die dortigen Bauhaus-Musterhäuser organisiert, in denen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zeitweise Paul Klee, Oscar Schlemmer und andere Künstlerfamilien wohnten. Den Besuchern wurde klar, welche Wechselbeziehungen es zwischen Kunst, Bauweise und Gesellschaft gab. Unter dem nationalsozialistischen Regime wurde das Bauhaus verboten, und auch der DDR unter Walter Ulbricht war die Stilrichtung des Bauhauses ein Dorn im Auge. Erst unter Erich Honecker änderte sich die Einstellung.