Weihnachtsrede vom 14. Dezember 2021
Für die SPD-Fraktion
Bärbel Kehl-Maurer und Markus Frank
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Fridrich,
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Bürkner,
Kolleginnen und Kollegen im Gemeinderat
liebe Bürgerinnen und Bürger Nürtingens,
so eine Jahresrede bietet eine Chance, kurz innezuhalten etwas Abstand zu gewinnen zum politischen Alltagsgeschäft.
Wie konnte es eigentlich soweit kommen, dass wir zu so gestandenen Frauen und Männer wurden, denen immerhin das Wohl unserer Stadt und ihrer Menschen mit anvertraut wurde?
Ein afrikanisches Sprichwort behauptet:
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen!“
So unterschiedlich wir auch sein mögen, Kinder waren wir schließlich alle einmal. Genauer gesagt: Kinder unserer Eltern. Sie lehrten uns unsere Muttersprache. Sie vermittelten uns Werte und Lebenshaltungen. Sie gaben uns Starthilfe.
Das ist eine enorme Leistung. Eine wunderbare Aufgabe.
Und eine ungeheuer große Verantwortung.
Aber auch Menschen ohne eigene Kinder leisten einen unschätzbaren Beitrag. Manchmal direkt, manchmal indirekt.
Deutschland ist ein reiches Land. Aber leider arm an Kindern. Und dazu sind in unserem reichen Land auch viele Kinder arm.
Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in relativer Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Familien, die in Deutschland von Armut betroffen sind, haben zwar eine gesicherte Existenz, leben und wohnen aber oft nur mit dem Nötigsten. Gute Wohnverhältnisse, genügend Raum für Familien, täglich eine warme Mahlzeit für arme Kinder sind in Deutschland nicht selbstverständlich.
Gerade diese Kinder müssen auf Vieles verzichten, was für andere Gleichaltrige selbstverständlich ist. Armut ist deshalb nicht nur ein materielles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.
Sozial benachteiligte Menschen ernähren sich ungesünder, bewegen sich weniger, bleiben immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, besuchen oft keine weiterführenden Schulen und haben nur mangelhafte Ausbildungschancen. Man spricht sogar vielfach von der 2. oder gar 3. Generation in prekären Verhältnissen.
Es braucht deshalb ein ganzes Dorf (oder eine Stadt wie Nürtingen) um Kinder groß zu ziehen! Oder anders ausgedrückt: Jede Stadt braucht ihre Kinder!
Denn Wohnen, Bildung und Erziehung sind keine Sache allein der Eltern, sondern der Gesellschaft.
Und dafür brauchen wir Netzwerke. Denn keiner darf verloren gehen. Am wenigsten unsere Kinder.
- Der renitente Junge, der die KiTa auf den Kopf stellt
- das junge Mädchen, das an Magersucht leidet
- die vermeintlich coole Jugendliche, die kifft
- der etwas abgedrehte Hauptschulabbrecher
– sie Alle sind wertvoll!
Das sollen sie auch spüren, auch in unserem schönen Nürtingen: Wir brauchen euch. Ihr bedeutet uns etwas. Wir wollen für euch da sein.
Jedes Jahr machen Jugendliche in unserer Stadt ein Freiwilliges Soziales Jahr oder helfen ehrenamtlich mit, zum Beispiel in der Seegrasspinnerei, in den Sportvereinen oder in den Jugendorganisationen der Kirchen.
Es läuft etwas sehr falsch, wenn junge Leute in unserem Land den Eindruck haben:
Wir brauchen euch nicht.
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen!“
Hier geht um die Haltung einer Gesellschaft insgesamt, die ihre Zukunft auf Kinder baut.
Eine Gesellschaft, die nur steigende Börsenkurse im Blick hat oder einen hohen Gewinn am Ende des jeweiligen Geschäfts-jahres, kann tief fallen. Aber wer im eigenen Leben an die kommende Generationen denkt, lebt wahrhaftig nachhaltig!
Ein von Respekt und Wertschätzung geprägtes Klima in unserer Gesellschaft und der Klimaschutz mit Blick auf die nicht zu leugnenden verheerenden Auswirkungen unseres Lebensstils, beides müssen wir im Blick behalten. Das sind zwei gute Gründe aktiv zu werden – und zu bleiben.
Bei allem, was zu verbessern ist, sollten wir nicht übersehen, was schon gut ist in unserem Land uns unserer Stadt.
Ich möchte es für meine Frau und mich persönlich sagen: Wie froh und dankbar sind wir als Eltern für eine funktionierende und gute Kinderbetreuung in Nürtingen.
Und unser jüngster Sohn hätte es schon zweimal nicht geschafft ohne die Ärztinnen und Pfleger im Nürtinger Krankenhaus und im Olgäle und ohne unser sehr gutes medizinische System.
Die leidvollen Erfahrungen der Pandemie, die schleichende Vereinsamung, die fehlende Geselligkeit, die wachsenden Ängste, könnten unseren Blick schärfen und uns neu sensibilisieren für das, worauf es auch in Zukunft ankommen wird. Die Zukunft einer Stadt liegt in den Kindern, die in ihr aufwachsen und die immer auch in besonderer Weise verletzbar und schutzbedürftig sind.
Jeder Mensch braucht möglichst gute Rahmenbedingungen, um seine Fähigkeiten auszubilden und seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können.
Vieles von dem, was wir manchmal für so wichtig halten, kommt auf den Prüfstand, relativiert sich, wenn es ernst wird im Leben. Wenn wir krank werden, wenn Menschen die wir lieben, sterben, dann stürzen viele äußerliche Sicherheiten zusammen, die uns angepriesen werden.
Dann zählen Hoffnung, Vertrauen, Verlässlichkeit, Sicherheit und Liebe.
Die Werte, die wir als Eltern einem Kind gegeben haben. Die wir als Nachbarin oder Lehrer, als Ausbilderin oder Handwerksmeister, als Erzieherin oder Pate einem Kind mitgegeben haben. Das ist eine sichere Investition in die Zukunft. So hinterlassen wir eine Spur im Leben.
Wir geben die Zuwendungen weiter, die Haltungen, die Kultur, die Werte, die wir selbst empfangen haben. Von denen, die uns geholfen haben zu gestandenen Frauen und Männern zu werden.
Apropos ge-standen! Da steckt ja das Wort ‚Stand‘ drin. Das hat ja viel für sich. Ein sicherer ‚Stand‘, also z. B. eine bestimmte Rolle und Aufgabe, die wir als Bürgermeister, Bürgerinnen oder Räte dieser Stadt innehaben, verleiht uns eine gewisse Sicherheit, ist immer aber auch Verpflichtung.
So stehen wir ein für unsere Demokratie, die jeden Tag aufs Neue erkämpft werden muss: Für die Vielfalt der Lebensentwürfe, für Chancengerechtigkeit, für Integration und Inklusion, für ein respektvolles Miteinander und die Achtung der Würde jedes einzelnen.
Zugleich wünschen wir uns bei aller Standhaftigkeit, dass wir die Erfahrungen nicht vergessen, die wir als Kinder machen durften und die viele als älter und alt werdende Menschen wieder machen:
- Wir sehr wir letztlich alle auf Hilfe angewiesen sind.
- Wie sehr wir einander brauchen. Weil niemand alles kann und überblickt und weil wir alle auch Fehler machen. – Jeder einzelne und jede Fraktion.
- Wie eine Gesellschaft nur dann auf Dauer funktionieren kann, wenn möglichst viele, nicht nur an sich denken, sondern auch an andere.
- Wie sehr die persönliche Freiheit da endet, wo sie das Leben anderer beschwert. Die immer noch zu geringe Zahl an Geimpften scheint uns hier nur ein Symptom.
Im zweiten Teil unserer Rede
wollen wir Sie und Euch einladen, einen kleinen Fantasie-Stadtrundgang durch unser Nürtingen zu unternehmen.
Wir begleiten ein Kind, ein Mädchen. Nennen wir sie Aische. Aische ist 10 Jahre alt und wohnt mit ihrer Mutter, sagen wir, im Roßdorf.
Aische ist in der vierten Klasse in der Grundschule, zusammen mit ihren Freunden, die sie schon vom Kindergarten kennt.
Aisches Mutter ist alleinerziehend. Hätte sie damals nicht Schutz gefunden im Frauenhaus und hätte sie nicht über den Bürgertreff eine bezahlbare städtische Wohnung bekommen, hätte sie mit ihrer Tochter bestimmt nicht in Nürtingen bleiben können.
Einige Jahre zuvor, auf einer von der Stadt organisierten Sozialkonferenz mit Bürgerbeteiligung, hat sie sich sogar mal getraut es laut und deutlich zu sagen, dass es in Nürtingen vor allem bezahlbare Wohnungen braucht.
Und dass eine Anlauf-stelle für Alleinerziehende, wo sie Informationen und Unter-stützung erhalten können außerordentlich hilfreich wäre.
Aische weiß noch nicht, was Quartiermanagement bedeutet, aber sie freut sich, dass viele sie mit Namen grüßen, wenn sie unterwegs ist. Leider muss sich Aische öfter mit sich selbst beschäftigen. Ihre Mama arbeitet, damit sie sich die Wohnung leisten können.
Neulich war Mama noch nicht zu Hause, als Aische früher von der Schule kam. Wie froh war sie da, dass sie bei ihrer Nachbarin klingeln konnte. Und als die ein anderes Mal wieder unterwegs war, ging sie einfach ins Roßdorf Lädle.
So geht es eben zu in einem guten „Quartier“ – jeder achtet auf den anderen – und die Älteren auf die Jüngeren.
Aber folgen wir weiter unserer Fantasie:
Der Fußballtrainer Ali ist ein absolutes Vorbild für Aische. Auf das Training, immer dienstags und donnerstags beim Waldheim, freut sich Aische schon vorher. Dort hat sie auch Freunde gefunden. Dass manche Bekannten ihrer Mama es falsch finden, dass ein türkisches Mädchen Fußball spielt, ist Aische egal. Aische beschäftigt auch nicht, ob die Eltern der anderen Kinder im Fußball oder in der Schule schon länger oder weniger lang in Deutschland wohnen. Sie fühlt sich mit Menschen verbunden, die offen, hilfsbereit und freundlich sind.
Im Sommer geht Aische ins FELA oder Panti. Für sie ist das immer ein Höhepunkt des Jahres: Spaß haben. Zusammen sein. Auch Aisches Mama ist sehr froh, dass ihre Tochter so gut Anschluss gefunden hat. Sie spricht sogar schon davon, wenn sie größer ist, dort einmal mitarbeiten zu wollen. Auch die Schule ist ein wichtiger Ort für Aische und meist geht sie auch gerne hin. Schön wäre natürlich eine Ganztagsschule mit Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung. Bloß eine Zeitlang war es blöd, als ein paar aus ihrer Klasse sie gehänselt haben weil sie anders ist als andere. Da war sie froh, dass ihre Klassenlehrerein und Claudia von der
Schulsozialarbeit ihr geholfen haben. In dieser Zeit war es für Aische einfach gut, dass sie das Tablet von der Schule auch nutzen konnte, um Claudia ihre Sorgen anzuvertrauen.
Besonderen Spaß hat Aische am Malen und am künstlerischen Gestalten. Einmal hat sie sogar an einem Ferienkurs FKN für Kinder teilgenommen. Das war nur möglich, weil der Gemeinde-rat sich um Unterstützung gekümmert hat, für Kinder aus Familien, die nicht so viel Geld haben. Am Ende gab es sogar eine Ausstellung im Forum Türk und Aische war stolz und glücklich, dass sogar die Bürgermeisterin die Figur der Fußballerin, die sie aus Gips gestaltet hatte, lobte.
Und weiter geht unsere fantastische Tour:
Seit vom Roßdorf herunter bis in die Stadt ein neuer, selbst für Kinder sicherer Radweg gebaut wurde, traut sich Aische sogar allein mit dem Rad in die Stadt zu fahren. Und ganz begeistert ist sie vom Kreisverkehr an der NT-Zeitung. Allerdings findet sie, dass ein paar mehr Radwege schon sinnvoll wären.
Ihre Mutter sagt: „Wie gut, dass die Stadt in den letzten Jahren viele Dinge umgesetzt hat, die uns wirklich helfen klarzukommen und uns schützen.“
Und sie nennt gleich noch ein Beispiel: „Nicht auszudenken, was hätte bei dem Starkregen passieren können, wenn sich die Stadt nicht rechtzeitig um den Hochwasserschutz gekümmert hätte!“
Dass es seit einiger Zeit sogar zuverlässig funktionierende und kostenlose und selbst fahrende Elektrobusse gibt, finden Aische und ihre Mutter toll. Sogar von Daimler gemacht, wo Aisches Bruder einen sicheren Arbeitsplatz hat.
Aisches Lieblingsplatz in Nürtingen ist – seitdem Kunst-Ferienkurs – die Kastanie im Bürgerpark vor der FKN. Direkt am Neckar. In dem Biergarten des Hotels dort gibt es so leckere Flammkuchen, zudem zu einem Preis, zu dem sich sogar Aische und ihre Mama an besonderen Tagen einen leisten können. Auf der anderen Seite winkt der Stadt-Balkon.
Damit wäre Nürtingen nun wirklich die Stadt am Fluss geworden von der Alle immer gesprochen haben. Dass es an einem solchen Lieblingsplatz sogar auch eine Toilette für Alle geben würde und so auch Aisches Cousin, der eine schwere Behinderung hat, mitkommen könnte, würde diesen Platz nicht nur für Aisches ganze Familie zu einem idealen Treffpunkt machen.
Und nun zur letzten Etappe unseres fantastischen Rundgangs:
Hier sehen wir Fotovoltaikanlagen, die alle Dächer der Stadt bedecken und vielleicht sogar – das eine oder andere Windrad – selbstverständlich eingepasst in die Landschaft. Und so kommt von dort aller Strom, den die Stadt braucht. Und man kann am Samstagabend bei stimmungsvoller Beleuchtung nicht nur auf dem Stadtbalkon, sondern auch an anderen der schönen Plätze von Nürtingen sitzen – ohne den zukünftigen Kindern der Stadt unbezahlbare Hypotheken zu hinterlassen. Aber leider müssen wir zurück aus der teilweise noch nur fantastischen Welt und zurück an den Ratstisch. Zu uns, den gestanden Frauen und Männern des Stadtrats.
Bald ist Weihnachten. Alles beginnt mit einem kleinen, hilfsbedürftigen und verletzbaren Kind. Später wird es auf der Flucht sein vor den Mächtigen seiner Zeit.
Aber mit Eltern, die sich um dieses Kind kümmern: Einem Vater, der seiner Frau und Familie die Treue hält, obwohl das Kind nicht von ihm ist und einer Mutter, von der ihr Sohn das Größte lernt, was es in diesem Leben zu lernen gibt: Was es heißt universelle Werte weiter zu geben und andere Menschen zu lieben.
Bald ist Weihnachten, das Fest der Liebe. Alles beginnt mit einem kleinen, hilfsbedürftigen und verletzbaren Kind. Es erinnert uns daran, dass Liebe nicht zu haben ist ohne Verzicht und die Bereitschaft, die eigene Bequemlichkeit, die Privilegien mit denen zu teilen, die sonst keine Chance hätten. Wir werden dabei letztlich selbst gewinnen.
Bald ist Weihnachten. Wir alle waren mal hilfsbedürftige verletzbare Kinder. Und, ganz ehrlich: Sind wir es auf die eine oder andere Weise nicht auch geblieben? Jedenfalls ist die Chance, dass auch für gestandene Frauen und Männer Zeiten kommen werden, wo sie Hilfe dringend nötig haben werden, sehr hoch.
Euch und Ihnen allen wünschen wir für das kommende Jahr Gesundheit, Glück und die Kraft, die nötig ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich bin sicher, es sind nicht die Veränderungen an sich, die wir fürchten müssen, sondern nur unsere Angst davor.
Wir freuen uns mit Ihnen und Euch gemeinsam daran zu arbeiten diese Herausforderungen zu meistern.
Denn (gemeinsam):
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen!“
Bild von Andrzej Rembowski auf Pixabay