Hauptredner auf dem gut besuchten Sommerfest der Nürtinger SPD war der Bundestagsabgeordnete Rainer Arnold. „Halbzeit in Berlin“ lautete sein Thema, aber angesichts der Flüchtlingssituation beschränkte er sich auf wenige Stichworte und widmete sich zuerst und ausführlich der Situation der Flüchtlinge. Für Arnold ist die Rettung und menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge eine „moralische Pflicht“. Nicht nur Deutschlands, auch der anderen europäischen Staaten. „Wir brauchen ein Sofortprogramm für mehr Erstunterkünfte“, forderte er. Länder und Kommunen müsste dauerhaft finanziell entlastet werden.
Ausdrücklich dankte Arnold allen Helfern, ohne deren engagierte Arbeit es nicht möglich wäre, so viele Flüchtlinge zu betreuen. Ganz besonders lobte er das Engagement vieler Nürtingerinnen und Nürtinger. „Das macht mich offen gesagt auch stolz – denn eine Nation lebt von der Zusammenarbeit und vom Mitgefühl unter ihren Bürgern!“
Abgesehen davon forderte Arnold zusätzliche Stellen beim Bundesfreiwilligendienst, bei der Bundespolizei und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Außerdem: „Die Verfahren sollen auch dadurch beschleunigt werden, dass weitere Länder des Balkans, das Kosovo, Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsländer eingestuft werden.“
Rede von Rainer Arnold im Wortlaut (einige PAssagen wurden in Nürtingen aus Zeitgründen weggelassen):
Halbzeitbilanz und aktuelle Herausforderungen
Als ich zugesagt habe, heute hier zu sprechen, wollte ich eigentlich das in den Mittelpunkt stellen, was Sozialdemokraten bisher in der Regierung geleistet haben: Der Zeitpunkt passt und es sind vor allem die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister, die die großen Projekte gestemmt haben.
Aber nun nimmt ein anderes Thema mindestens genauso viel Raum ein: Die zahlreichen Menschen, die vor Krieg und Not bei uns Schutz und Perspektive suchen. Und die Aufgaben und Chancen, die das für die Politik und unsere gesamt Gesellschaft bringt.
Dabei hat Migration auch etwas damit zu tun, was Sozialdemokraten seit jeher antreibt: Die Frage nach gerechten Chancen, die jeder für ein gelingendes Leben braucht.
Wir Sozialdemokraten wollen damals wie heute Bedingungen dafür schaffen, dass das Leben eines jeden gelingen kann – und zwar unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, von Herkunft und Geschlecht.
Uns geht es um bessere Chancen für den Einzelnen, in der Arbeitswelt, bei der Verteilung von Wohlstand. Wir regulieren dort, wo einiges aus dem Lot geraten ist. Wir nehmen weder Dumpinglöhne noch Wuchermieten hin. Das haben wir im Wahlkampf versprochen – und halten wir.
Das wichtigste Projekt, das wir in dieser Wahlperiode durchgesetzt haben, ist der allgemeine und gesetzliche Mindestlohn.
Dafür haben wir zehn Jahre gekämpft!
Ab 2015 haben jetzt alle volljährigen Arbeitnehmer Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50. Für viele Menschen, die vier, fünf oder sechs Euro die Stunde verdienen, ist das die kräftigste Lohnerhöhung in ihrem Leben!
Der Mindestlohn ist aber nicht nur sozial gerecht. Er ist auch ordnungspolitisch richtig, weil er endlich damit Schluss macht, dass Dumpinglöhne den Wettbewerb verzerren.
Deshalb machen wir gute Politik für Menschen die hart arbeiten und verantwortungsvolle Unternehmer.
Gerechtigkeit heißt für uns aber auch Balance zwischen den Generationen.
Wer lange und hart gearbeitet hat, darf im Alter nicht von Altersarmut bedroht sein. Deshalb haben wir die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren durchgesetzt. Das können wir auch selbstbewusst gegen die verteidigen, die daraus einen Generationenkonflikt machen wollen: Wenn wir den Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, und das unter viel schlechteren Bedingungen als heute, wenn wir ihnen die Chance geben, ohne Kürzung in Rente gehen zu können, dann ist das ein Akt der Gerechtigkeit – und eine Frage des Anstandes !
Zur Generationengerechtigkeit gehört auch, dass wir die Jungen, die Familie und Beruf aufbauen sollen, nicht zu sehr belasten, sondern die Vereinbarkeit von beidem möglich machen.
Mit dem ElterngeldPlus können Eltern bei Teilzeitarbeit seit dem 1. Juli doppelt so lange Elterngeld beziehen, also 28 Monate.
Zur Gerechtigkeit gehört, heute keine Schulden für die Generationen von morgen zu machen.
Der Bundeshaushalt für 2015 ist ein Haushalt ohne neue Schulden. Darauf mussten die Bürger 46 Jahre warten.
Und er ist Riesenerfolg, denn Schulden und Zinsen verengen den Spielraum der Politik. Sie begrenzen die Handlungsfähigkeit des Staates.
Wir wollen aber einen handlungsfähigen Staat. Wir wollen gestalten!
Denn auch das muss man ehrlicherweise sagen: Wir haben in den vergangenen Jahr zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert. An vielen Stellen, etwa bei den Verkehrswegen, fahren wir auf Verschleiß.
Deshalb wollen wir den ausgeglichenen Haushalt mit klugen Investitionen verbinden. Das haben wir vor der Wahl versprochen und das lösen wir jetzt ein. Zum Beispiel indem die Städte und Gemeinden ab 2014 um 5,5 Milliarden Euro entlastet werden, weil der Bund die Kosten für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig übernimmt.
Und wir senden mit diesem Haushalt eine ganz klare Botschaft an die junge Menschen im Land: Wir wollen nicht mehr, dass heute Politik auf dem Rücken der Generationen von morgen gemacht wird!
Wir stehen für gerechte Chancen – unabhängig von der Herkunft und Geschlecht.
Mit uns gibt es jetzt eine Frauenquote in börsennotierten Unternehmen. Es ist nämlich nicht nur ungerecht, Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbauen, wenn sie Kinder haben. Es ist auch wirtschaftlich unklug.
Wir wollen aber auch gerechte Chancen für die, die in unserem Land eine Perspektive gefunden haben. Vor der Wahl haben versprochen, jungen Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die doppelte Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. Und das haben wir gehalten. Wer als Kind ausländischer Eltern bis zum 21. Lebensjahr mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt hat, darf jetzt beide Staatsangehörigkeiten behalten. Das signalisiert den jungen Menschen: Ihr gehört in dieses Land!
Wir brauchen gerechte Teilhabe und bezahlbare Mieten.
Wir wollen, dass die soziale Mischung in unseren Städten erhalten bleibt. Wir wollen, dass Familien weiterhin bezahlbare Wohnungen in der Nähe von Kita oder Schule finden.
Wo die Mieten derzeit überdurchschnittlich hoch sind, haben wir deshalb die Mietpreisbremse eingeführt. Vermieter sollen die Kosten für den von ihnen bestellten Makler nicht mehr auf die Mieter abwälzen können. Für den Makler gilt daher in Zukunft: Wer bestellt, der bezahlt!
Was wir als nächstes umsetzen.
Wir haben aber erst einen Teil des sozialdemokratischen Programms aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt.
Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Leih- und Zeitarbeit muss wieder für das gebraucht werden, für das sie gedacht war, nämlich für Flexibilität in Unternehmen und nicht zum Missbrauch gegen Arbeitnehmerrechte. Diesem Missbrauch, bei dem mit Leih- und Zeitarbeit Löhne gedrückt werden, wollen wir einen Riegel vorschieben.
Wir wollen gleiche Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher Arbeit.
Wir wollen wir wollen ein Verfahren, dass sicherstellt, dass diese Lohndiskriminierung aufhört.
Wir wollen eine gerechtere Verteilung von Wohlstand.
Sehr große Vermögen sollen entsprechend Steuern zahlen und ihren Beitrag für einen leistungsfähigen Staat leisten. Deshalb steht für uns bei der Reform der Erbschaftssteuer der Erhalt der Arbeitsplätze bei Firmenübergängen im Mittelpunkt, während die CSU, vor allem große Vermögen privilegieren will.
Wir bekommen dafür jede Menge Kritik von den Unternehmensverbänden. Aber wir stehen dazu, denn damit verringern wir die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung in unserem Land.
Verantwortung und Gerechtigkeit heißt für uns aber auch: Versöhnung von wirtschaftlicher Öffnung und sozialer Frage.
Zu TTIP:
Als Exportnation brauchen wir auch eine Öffnung nach außen. Dazu gehört immer auch Freihandel.
Es wäre ein Fehler, wenn wir sagen, wir verhandeln überhaupt nicht mit den Amerikanern. Die USA sind der größte ausländische Markt für europäische und deutsche Produkte.
Aber ein Freihandelsabkommen darf in Deutschland und Europa weder Standards absenken noch an irgendeiner Stelle das Recht privatisieren. Es darf auch keine demokratischen Rechte von Parlamenten und Regierungen einschränken!
Deshalb stimmen wir nur einem Abkommen zu, bei dem Mitbestimmungsrechte und Tarifautonomie nicht berührt werden. Das gilt auch nationale Gesetze der EU-Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel Streikrecht und Mindestlöhne.
Trotzdem berührt das Abkommen viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Sorgen der Bürger nehmen wir deshalb ernst. Aber wir begegnen auch Kritikern des Abkommen offensiv und sachlich, wenn sie mit falschen Aussagen unterwegs sind.
Und wir kämpfen gemeinsam mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament dafür, dass wir vernünftige Regelungen in das Abkommen hineinbekommen.
Flüchtlinge
Aber jetzt kommen wir zu dem, was unsere Gesellschaft derzeit am meisten bewegt: Den Menschen, die in großer Zahl vor Krieg und wirtschaftlicher Not fliehen, die zu uns kommen, in der Hoffnung auf Schutz und eine Perspektive für sich und ihre Familien.
Die Situation ist dramatisch: Noch nie seit dem Ende des zweiten Weltkrieges waren so viele Menschen auf der Flucht wie derzeit. Ende 2014 waren es 60 Millionen Menschen – 8 Millionen Menschen mehr als nur ein Jahr zuvor!
Die allermeisten sind Vertriebene im eigenen Land. So sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung in Syrien auf der Flucht, ebenso Hundertausende im Irak oder im Südsudan. Besonders bedrückend: Die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Viele Flüchtlinge bleiben in der Nähe ihrer Heimat, weil sie auf eine schnelle Rückkehr hoffen. Aber immer mehr Menschen nehmen immer längere, gefährlichere und kostspiele Fluchtwege in Kauf, um den Neuanfang in Europa zu wagen.
Sie sind monatelang unterwegs – und meist wehrlos Plünderern, Erpressern und Schleusern ausgeliefert. Sie werden ausgeraubt und ausgebeutet. Sie riskieren ihr Leben, wenn sie sich auf schrottreifen Schiffen und untauglichen Schlauchboote auf das Mittelmeer wagen.
Dabei sind die Flüchtlinge von heute politische Nachfahren – von den Verfolgten während des Nationalsozialismus und der Vertriebenen bei Kriegsende. Sie sind aber auch politische Nachfahren der fast 5,5 Millionen verarmten und verfolgten Deutschen, die zwischen 1812 und 1912 auf lebensgefährlichen Überfahrten nach Amerika flohen – vor wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung, wie die Flüchtlinge heute!
Angesichts von Bürgerkriegen, islamistischem Terror und zerfallenden Staaten in Afrika und dem Nahen Osten werden die Flüchtlingszahlen auch mittelfristig steigen.
Große Aufgaben und Herausforderungen von Politik und Gesellschaft
Rettung als moralische Pflicht
Beginnen wir mit dem, was selbstverständlich sein sollte. Es ist die moralische Pflicht aller Staaten Europas, Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten. Für dieses Bekenntnis sollte es nicht erst die erschütternden Bilder von ertrunkenen Flüchtlingskindern brauchen, deren Leichname an den Küsten Europas angeschwemmt werden!
Neben der Seenotrettung müssen wir die Schleuserkriminalität bekämpfen und mehr zur Bekämpfung der Fluchtursachen tun. Wir müssen uns stärker als bisher um die Nachbarstaaten der Krisengebiete kümmern. Dafür werden die Mittel jetzt um 400 Millionen Euro aufgestockt.
Jetzt wird für viele erst Verständlich, was der Bundespräsident meinte, als er eine Klärung der Rolle und Verantwortung Deutschlands in der Welt einforderte. Wir werden einen stärkeren Focus auf die Außen und Sicherheitspolitik benötigen.
Nur, Fluchtursachen vor Ort bekämpfen wird ein langer Weg – das hilft uns in der aktuellen Situation nichts
Daher müssen wir in erster Linie unsere Möglichkeiten in Deutschland und in Europa betrachten, wo wir Einfluss haben und unmittelbar Verantwortung tragen.
Es kann nicht so bleiben wie es in letzten Monaten war
Den Menschen ein erstes Obdach verschaffen
Wir brauchen ein Sofortprogramm für mehr Erstunterkünfte. Und das ist nicht nur Aufgabe von Ländern und Kommunen. Der Bund sie beim Ausbau von den benötigten 150.000 winterfesten Plätzen unterstützen, etwa indem er Bundesimmobilien sofort und auf eigene Kosten zu Unterkünften umbaut und mietzinsfrei bereitstellt.
Dabei Länder und Kommunen dauerhaft entlasten
Für 2015 haben wir die Soforthilfe für die Unterbringung von Flüchtlingen schon verdoppelt: Anstatt 500 Mio. Euro erhalten die Kommunen eine Milliarde Euro.
Im Haushalt 2016 plant der Bund drei Milliarden mehr für die Aufgaben in Zusammenhang mit Flüchtlingen ein. Außerdem unterstützt der Bund Länder und Kommunen in 2016 mit zusätzlichen 3 Milliarden Euro.
Klar ist aber auch: Das ist die Position der Bundesregierung. Bis zum Flüchtlingsgipfel Ende September wird es noch intensive Gespräche mit den Ländern geben. Möglicherweise werden diese Beträge dann auch noch höher ausfallen.
Asylverfahren beschleunigen
Wir sollten uns über die Fakten verständigen: Fast die Hälfte der Asylbewerber kommt zurzeit noch aus dem Westbalkan, aus Ländern die zum Teil als sichere Herkunftsländer eingestuft sind.
Die Anerkennungsquote für diese Menschen liegt bei 0,1 bis 0,2 Prozent. Die große Anzahl von Menschen sorgt aber dafür, dass die Verfahren derzeit immer noch länger dauern, als die angestrebten drei Monate.
Diese Verfahren müssen zügig behandelt werden, damit Kapazitäten für die andere Hälfte der Asylbewerber vorhanden sind, Asylbewerber aus den Ländern, in denen Krieg und Terror herrschen, vor allem Syrien, Eritrea und dem Irak.
Wir haben bereits erreicht, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2015 750 und ab 2016 nochmals 1250 neue Stellen bekommt.
Bei der Bundespolizei wird es in den nächsten 3 Jahren zusätzlich 3.000 Stellen geben.
Die Verfahren sollen auch dadurch beschleunigt werden, dass weitere Länder des Balkans, das Kosovo, Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsländern eingestuft werden.
Und schließlich müssen wir Alternativen zum Asylweg schaffen. Wer etwa aus den Balkanstaaten aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommt, und einen Arbeits- und Ausbildungsvertrag zu ortsüblichen Löhnen vorweisen kann, der soll auch hier arbeiten dürfen.
Andrea Nahles als Arbeitsministerin hat ja bereits Vorschläge gemacht. So sollen Flüchtlinge nach drei Monaten unkompliziert eine Stelle antreten dürfen ohne dass geprüft wird, ob es dafür noch Bewerber in einem anderen EU-Land gibt. Durch solche pragmatischen Lösungen hat die Bundesagentur auch mehr Kapazitäten für drängendere Aufgaben.
Um den Druck aus dem Asylverfahren zu nehmen, brauchen wir aber auch endlich ein modernes Einwanderungsrecht! Hier muss sich die Union endlich bewegen.
Mehr Unterstützung für diejenigen, die bleiben
Der wichtigste Schlüssel zur Integration ist die Sprache. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen, die Schutz vor Krieg und Terror erhalten, in unserer Gesellschaft eine Perspektive und ihren Platz am Arbeitsmarkt finden können.
Wir haben dafür gesorgt, dass 25 Millionen Euro zusätzlich für Sprachkurse gibt. Weitere 12 Millionen sind für Jugendmigrationsdienste eingeplant.
Der Bund öffnet außerdem Sprachkurse für Asylbewerber mit guten Chancen auf Anerkennung. Sie haben jetzt Anspruch auf 300 Stunden – und nach ihrer Anerkennung auf 600 Stunden Sprachunterricht.
Denn Flucht und Asyl dürfen nicht jahrelanges Nichtstun bedeuten. Ausbildung und Arbeit sind die beste Integration.
Freiwilliges Engagement unterstützen
Bei allen Schwierigkeiten können wir aber auch sagen: Deutschland hat im Umgang mit Asylbewerbern gelernt. Es gibt, von einigen Verbitterten abgesehen, bei uns mittlerweile eine engagierte Zivilgesellschaft, die anpackt und zu unkonventionellen Bündnissen und Maßnahmen in der Lage ist. Das ist ein großer Unterschied zur Situation von vor zwanzig Jahren, als sich die deutsche Öffentlichkeit durch Ausschreitungen und Krawalle in die Enge getrieben fühlte.
Heute bringen viele Bürger Anteilnahme für die Flüchtlinge auf. Ihr Blick ist geschärft für das Leid des anderen. Das macht mich offen gesagt auch stolz – denn eine Nation lebt von der Zusammenarbeit und vom Mitgefühl unter ihren Bürgern!
Dieses Engagement werden wir auch politisch stärken, indem wir 10.000 Stellen zusätzlich beim Freiwilligendienst des Bundes schaffen.
Ein gutes und lebendiges Beispiel ist die langjährige ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit in Nürtingen, deren Aktive sich vor zwei Jahren im Netzwerk Flüchtlingsarbeit zusammengeschlossen haben. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meine volle Wertschätzung ausdrücken – und für Ihre Arbeit herzlich danken!
Eine gute europäische Lösung schaffen
So viel unser Land für die in Not Geratenen auch leisten kann, können wir natürlich nicht alle aufnehmen, die zu uns kommen. Es ist ja auch keine Aufgabe für nur drei oder vier Länder in Europa. Es geht deshalb nicht, dass andere europäische Staaten diese Aufgabe nicht als die ihre sehen. Europa ist nicht durch Ereignisse wie die in Griechenland in Gefahr, sondern durch den wachsenden nationalen Egoismus seiner Mitgliedstaaten!
Die EU wird deshalb über eine solidarische Verteilung und Aufnahme der Menschen reden müssen. Sie wird auch darüber reden müssen, wie die EU-Staaten unterstützt werden können, in denen besonders viele Flüchtlinge ankommen. Herr Juncker hat hier Vorschläge gemacht, wie die erwarteten 160.000 Flüchtlinge auf EU-Länder verteilt werden können. Wir sind hier in Europa keine Zugewinngemeinschaft, bei der man mitmacht, wenn man Geld kriegt. Wir sind eine Verantwortungsgemeinschaft.
Die historische Dimension dieses Problems bringt es also mit sich, dass wir mehr tun müssen. Mehr aufnehmen, mehr helfen, aber auch besser steuern, schneller entscheiden und auch, falls nötig, konsequenter abweisen, damit wir aufnahmefähig bleiben, für die, die unbedingt unseren Schutz brauchen.
Wir dürfen die Bereitschaft zu Solidarität nicht überstrapazieren. Zugleich sollten wir aber auch die Chancen für unsere Gesellschaft sehen, wenn Menschen bei uns eine Perspektive suchen. Der Wunsch zum Neuanfang bei vielen der Flüchtlinge von heute kann unsere alternde Gesellschaft Dynamischer halten.
Wir werden nicht Fehler der Vergangenheit wiederholen. Integration ist Aufgabe aller: Angebote zum Gelingen der Deutschen Gesellschaft und zwingende Bereitschaft der Flüchtlinge sich selbst in unserm Land einzubringen. Haben wir daher Vertrauen in die Kräfte, über die unser Land nachweislich verfügt und sehen wir in den Herausforderungen von heute auch die Chancen von morgen! Johannes Rau hat das in seiner Berliner Rede vor 16. Jahren bereits in der Überschrift auf den Punkt gebracht: „Ohne Angst und ohne Träumereien“- d.h. für mich aktuell: wir müssen uns alle der derzeitigen Wirklichkeit und großen Herausforderung stellen!